Cohn als Jude
Aufgrund des königlichen Edikts vom März 1812 liberalisierte sich die Gesetzgebung
für die Juden in Preußen erheblich und führte zumindest theoretisch zu ihrer
weitgehenden Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerung. Neben
Berlin konnte sich vor allem in Breslau die Emanzipierung der Juden
wirkungsvoll entfalten, da die jüdische Gemeinde in Breslau zum einen
sehr groß war und zum anderen in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts stark beeinflusst wurde durch die Reformbestrebungen
des Rabbiners Abraham Geiger (1810-74). So waren die aufgeklärten Juden bestrebt,
sich in der Breslauer Gesellschaft zu integrieren.
Beispielhaft für die Integrationsbemühungen der Breslauer Juden steht die Chronik der Familie
Cohn. Isaak Cohn, der Vater Ferdinands, erhielt bereits 1826 das Breslauer Bürgerrecht, wurde
österreichisch-ungarischer Konsul, bekleidete zahlreiche Ämter in Breslauer Vereinen und
Einrichtungen und bekam schließlich den Doktorgrad aufgrund seiner wissenschaftlichen
Abhandlung "Über die Wichtigkeit der Cemente" verliehen. Aus seiner großen Familie mit 8
Kindern bekleideten zwei seiner Söhne, Ferdinand und der Jurist Max, später hohe Ämter im
preußischen Staat.
1846 war Ferdinand Cohn zwar aufgrund der eingeschränkten Gesetzgebung
noch gezwungen, zur Promotion in das liberalere
Berlin zu gehen. Doch bereits 1850 gestattete ihm eine weitere Liberalisierung
der Gesetzgebung, die Habilitation von der Universität Breslau zu
erlangen. Ein am 23. 7. 1847 erlassenes Gesetz bestimmte, dass Juden als
Privatdozenten, außerordentliche und ordentliche Professoren der medizinischen,
mathematischen, naturwissenschaftlichen, geographischen und sprachwissenschaftlichen
Lehrfächer zugelassen werden konnten, soweit dem die Statuten der
jeweiligen Universität nicht entgegenstanden. Die juristische Laufbahn
blieb Juden allerdings zunächst weiterhin verschlossen.
Die Frage, ob Ferdinand Cohn ein gläubiger Jude war, kann aufgrund seiner wenigen Äußerungen zu
diesem Thema nicht beantwortet werden. Es ist jedoch aufgrund seiner Tagebuchaufzeichnungen zu
vermuten, dass er dem liberalen, aufgeklärten Flügel des Judentums angehörte. Er erwähnt nie
den Besuch einer Synagoge oder irgendwelche Aktivitäten in der jüdischen Gemeinde.
Am Ende seines Lebens ließ er einen Journalisten wissen:
"Ich habe es von früher Jugend als meine Lebensaufgabe aufgefaßt,
durch volle Hingabe an die Wissenschaft und ihre Lehre unseren Mitbürgern
den Beweis vorzuführen, daß auf diesem Gebiete geistiger Arbeit
auch der Jude, unbeschadet der konfessionellen Differenz, auf völlig
gleichem Boden mitwirkt und daher auch gleiche Rechte und Pflichten
beanspruchen darf."
Für die Gleichstellung der jüdischen Wissenschaftler mit ihren christlichen Kollegen hat er
sich folglich sein Leben lang eingesetzt. Ihm selbst ist aber der Aufstieg gelungen, obwohl er
nicht wie viele seiner Glaubensbrüder konvertierte. 1859 wurde er der erste außerordentliche
Professor jüdischen Glaubens in Deutschland, 1872 der erste ordentliche Professor jüdischen
Glaubens in Preußen, und 1888 wurde er mit dem Titel Geheimer Regierungsrat ausgezeichnet
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